Warum der deutsche Mittelstand keine OKRs braucht

Eine neue Wunderwaffe für Führungskräfte jubelte das Handelsblatt in einem Beitrag des Jahres 2018. Gemeint damit war das Führungs- und Steuerungskonzept Objektives and Key Results (abgekürzt OKR), welches ursprünglich bei der amerikanischen Firma Intel eingesetzt wurde, vor allem aber durch Berichte und Einblicke des Einsatzes bei Google enorme Bekanntheit und Strahlkraft erreicht hat. Im Fahrwasser zunehmender Technologieorientierung und Gründungskultur gelangte das Thema vor einigen Jahren nach Deutschland und erreichte zunächst vor allem technologiegetriebene Startups sowie Tochterunternehmen amerikanischer Technologiekonzerne. Mittlerweile ist das Thema OKR auch im deutschen Mittelstand angekommen.

Worum geht es im Kern? OKRs sind ein Instrument der Strategieumsetzung in Unternehmen und sollen Mitarbeitenden helfen, sich zu fokussieren und Ressourcen wie Zeit oder Budget zu priorisieren. Fortschritte werden messbar gemacht und regelmäßig kontrolliert. Nichts Neues? Richtig. Nichts Neues. Klassische Zielsysteme und Kennzahlenkonzepte wie Management by Objektives (MBO) oder die Balanced Scorecard (BSC) verfolgen sehr ähnliche Ansätze. Was ist also neu am OKR-Konzept? Die Neuartigkeit liegt in einigen Details wie einem hohen Grad an Transparenz, der Entkopplung von Vergütung und Zielerreichung, der Wahl von äußerst schwierigen, kaum erreichbaren Zielen und eines vergleichsweise kurzen, oft quartalsweisen, Betrachtungshorizontes. Indem OKRs oft auf Gruppen- oder Team-, aber nicht auf individueller Ebene einzelner Mitarbeitenden gesetzt werden, soll Zusammenarbeit und Kooperationsbereitschaft gestärkt werden.

Braucht der deutsche Mittelstand OKRs? Diese Frage erreichte mich in den letzten Monaten in Gesprächen mit Führungskräften sehr oft. Die Antwort darauf ist: oftmals nein. Selbstverständlich können OKRs in ganz speziellen Konstellationen helfen, beispielsweise in der Produktentwicklung oder in einer IT-Umgebung. Viele Aspekte von OKRs sind allerdings weitgehend unbrauchbar für einen Großteil mittelständischer Unternehmen. Ich möchte dies an drei zentralen Dimensionen des Konzeptes deutlich machen:

  • Entkopplung von Vergütung und Zielerreichung. Leistung differenziert zu messen und zu belohnen ist für viele Mitarbeitenden ein zentraler Motivationstreiber. Das OKR-Konzept beruht auf der Annahme, dass Motivation intrinsisch ist, d.h. aus eigenem Willen, persönlichem Pflichtbewußtsein oder Spaß an der Aufgabe erfolgt. Dies mag in einer technologiegetriebenen Umgebung mit hohen Grundgehältern, herausfordernden Aufgaben und vergleichsweise junger Belegschaft der Fall sein. Wir haben in einer aktuellen Befragung meines Institutes zum Thema OKR herausgefunden, dass fast kein deutsches mittelständisches Unternehmen auf monetäre Anreizsysteme verzichtet. Dieser Grundgedanke von OKR scheint somit wenig attraktiv. Nicht jede Tätigkeit im Tagesgeschäft ist erfüllend und die Möglichkeit, durch Leistung Prämien oder Boni erhalten zu können, ist und bleibt durchaus motivierend für viele Mitarbeitende.
  • Stretch-Targets. OKRs sind herausfordernd. So herausfordernd, dass Sie in der Erwartung von den meisten Mitarbeitenden nicht erreicht werden. Derartig schwierige Ziele sollen Mitarbeitende dazu bewegen, außerhalb ihres übliches Vorstellungsrahmen zu denken, zu neuen Lösungen zu kommen und kreativ zu sein. Dies klingt durchaus interessant, verlangt aber eine entsprechende „Kultur des Scheiterns“ sowie ausreichend freie Ressourcen an Mitarbeiterkapazitäten und Budgets. Derartige Voraussetzungen finden sich in IT- und Entwicklungsabteilungen von Startups oder großen Konzernen, allerdings in nahezu keinem etablierten, mittelständischen Unternehmen, das ich in den letzten Jahren kennenlernen durfte. Zudem demotivieren zu schwierige Ziele, welche man ohnehin nicht erreichen kann, und blockieren eine erfolgreiche Strategieimplementierung.
  • Quartalsrhythmus. Planungs-, Budgetierungs- und Steuerungskonzepte im deutschen Mittelstand sind oftmals auf ein Geschäftsjahr ausgelegt. Hintergrund ist die jährlich zu erstellende Steuer- und Handelsbilanz, welche dann den Zeithorizont für die interne Planung und Budgetierung vorgibt. Eine Umstellung des gesamten Unternehmens auf ein Quartal bringt einen Aufwand mit sich, welcher in vielen Fällen den Nutzen bei weitem übersteigt. Zudem beraubt sich der Mittelstand einer besonderen Stärke: einer ausgeprägten Langfristorientierung, welche eben nicht darauf abzielt, kurzfristig Ergebnisse zu maximieren, welche zu Lasten langfristiger Investitionen gehen können. Es ist keine Überraschung, dass größere mittelständische Konzerne eine Börsennotierung auch deshalb ausschließen, weil sie wenig Lust verspüren, quartalsweise der Öffentlichkeit Bericht zu erstatten.

Diese drei Punkte verdeutlichen, dass OKRs für viele mittelständische Unternehmen oft kein geeignetes Instrument zur Strategieimplementierung sind. Stattdessen ist ein angepaßtes und sorgfältig austariertes Zielsystem die bessere Wahl. Hier können – je nach Arbeitsumgebung und Anspruch – Elemente von OKR einfließen oder eben nicht.